27.11.2025 | Lesezeit: 10min
Sprungbrett in ein gewaltfreies Leben
Dieses Jahr unterstützen ewl energie wasser luzern und Migros-Kulturprozent mit einer Solidaritätsaktion das Frauenhaus Luzern – eine unverzichtbare Anlaufstelle für gewaltbetroffene Frauen und ihre Kinder im Kanton Luzern. Im Gespräch mit Irene Müller, Co-Geschäftsleiterin der Institution, erfahren wir, warum der Weg aus dem Teufelskreis der Gewalt so schwierig ist und wie das Frauenhaus Leben verändert.
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Sara Wildhaber Medienverantwortliche für Gas, Installations- und Energiedienstleistungen
Die Schweiz gilt eigentlich als sicheres Land. Doch wenn es um häusliche Gewalt geht, sieht die Realität anders aus. Im Jahr 2024 wurden 21’127 Straftaten im häuslichen Bereich registriert – das sind fast 40 Prozent aller polizeilich registrierten Straftaten. Die Dunkelziffer ist um ein Vielfaches höher. Zudem sind 70 Prozent der Opfer Frauen. Irene Müller kennt die Not der Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind. Seit knapp zwei Jahren ist die Sozialarbeiterin als Co-Geschäftsleiterin des Frauenhauses Luzern tätig.
Irene Müller, die aktuellen Zahlen zu häuslicher Gewalt sind erschreckend. Wie viele Frauen und Kinder finden jährlich bei Ihnen Zuflucht?
Letztes Jahr haben 72 Frauen und 84 Kinder Schutz im Frauenhaus Luzern gefunden. Zudem haben wir über 1'250 Beratungen via Telefon oder Mail durchgeführt. Der Bedarf an Unterstützung ist konstant hoch. In den mehr als 40 Jahren, in denen es das Frauenhaus Luzern gibt, hat der Bedarf klar zugenommen.
Anmerkung der Redaktion: Tatsächlich ist seit Jahren eine Zunahme der häuslichen Gewalt zu verzeichnen. Die Zahlen vom Bundesamt für Statistik zeigen deutlich, dass die polizeilich registrierten Straftaten im Bereich der häuslichen Gewalt seit 2010 zugenommen haben.
Was führt dazu, dass Frauen bei Ihnen Schutz suchen?
Die meisten Frauen haben bereits über längere Zeit körperliche, psychische oder sexualisierte Gewalt erlebt. Auch Zwangsheirat oder Stalking führen dazu, dass Frauen zu uns kommen. Die Täter sind meistens die Partner oder Ex-Partner der Frauen – und häufig ist die Gewalt das Resultat einer jahrelangen, systematischen Unterdrückung. Sehr häufig sind auch Kinder involviert.
Weshalb trauen sich viele Frauen lange nicht, ins Frauenhaus zu kommen?
Für Frauen, die sich entscheiden, in ein Frauenhaus zu gehen, ist das ein grosser Schritt. Viele haben Angst davor, da er massive Folgen haben kann: Vielleicht hat ihr Partner Mord- oder Suiziddrohungen für den Fall ausgesprochen. Oder er hat gedroht, dass ihr die Kinder weggenommen werden, wenn sie den gemeinsamen Haushalt verlasse. Vielleicht hat sie Angst, die Familie zu zerstören. Vielleicht liebt sie ihren Partner noch und möchte, dass die Gewalt endet, aber nicht die Beziehung. Vielleicht befürchtet sie, ihr gesamtes soziales Umfeld zu verlieren oder finanziell von der Sozialhilfe abhängig zu werden. Viele Frauen, die sich für eine Trennung entscheiden, müssen sich von Grund auf ein neues Leben aufbauen. Wichtig ist, dass der Schritt in ein Frauenhaus bedeutet, sich Hilfe zu holen, zur Ruhe zu kommen und dort zu überlegen, wie es weiter gehen kann. Wir drängen keine Frau dazu, sich zu trennen, sondern begleiten sie Schritt für Schritt dabei, alle Optionen zu prüfen, um sich selbstständig für die nächsten Schritte in ihrem Lebensweg zu entscheiden.
Anmerkung der Redaktion: Bis 1988 gab das Schweizer Eherecht klare Rollen vor: Der Mann war das Haupt der Gemeinschaft, die Frau führte den Haushalt. Mit der Heirat verlor die Frau deshalb fundamentale Freiheiten und brauchte für vieles die Zustimmung des Mannes, z.B. für die Eröffnung eines Bankkontos oder für eine Erwerbsarbeit ausser Haus. Diese Ungleichheit schaffte ein Machtgefälle und eine Abhängigkeit der Frau vom Partner. Diese Strukturen sind teils bis heute tief verankert und begünstigen die Gewalt an Frauen.
Wir drängen keine Frau dazu, sich zu trennen. Wir begleiten sie dabei, alle Optionen zu prüfen, um sich selbstständig für die nächsten Schritte in ihrem Lebensweg zu entscheiden.
Irene Müller, Co-Geschäftsleiterin Frauenhaus Luzern
Welche Angebote bietet das Frauenhaus?
Das Haus bietet Frauen und ihren Kindern eine sichere und anonyme Unterkunft in akuten Notsituationen. Wir sind rund um die Uhr, sieben Tage die Woche telefonisch erreichbar. Man kann also auch jederzeit anrufen und sich beraten lassen.
Wenn eine Frau zu uns kommt, wird ihr eine Sozialarbeiterin als Bezugsperson zugeteilt. Wenn sie Kinder hat, erhält sie eine Sozialpädagogin als weitere Bezugsperson für die Kinder und für sich in der Mutterrolle. Sie schauen, was die Frauen und ihre Kinder brauchen, um das Geschehene zu verarbeiten und um ihre nächsten Schritte in Ruhe planen zu können. Ob es um die Suche nach einer neuen Wohnung geht oder die rechtliche Unterstützung bei einer Trennung – wir stehen ihnen mit unserem Fachwissen zur Seite. Wir tragen ihre Entscheidungen mit, auch wenn sie sich entscheiden, zurück zum Partner zu gehen.
Kommt es häufig vor, dass die Frauen zurück zu ihrem Partner gehen?
Rund ein Viertel der Frauen geht nach dem ersten Aufenthalt zurück zum Partner. Dies ist im Vergleich zu früher ein viel kleinerer Prozentsatz. Da häusliche Gewalt oft von jahrelang wiederkehrenden Gewaltspiralen geprägt ist, kann der Ausstieg daraus manchmal mehrere Versuche benötigen. Aber auch wenn eine Frau zu ihrem Partner zurückgeht, steht sie in der Regel nach dem Aufenthalt im Frauenhaus an einem ganz anderen Punkt als vorher. Sie ist zum Beispiel über ihre Rechte informiert und weiss, dass sie bei einem allfälligen nächsten Mal wieder Unterstützung im Frauenhaus oder bei der Opferberatung erhalten wird.
Gibt es Vorurteile, mit denen Sie in Ihrer Arbeit konfrontiert sind?
Ein verbreitetes Vorurteil über häusliche Gewalt ist die Vorstellung, «es brauche zwei zum Streiten». Doch hier muss klar differenziert werden: Bei häuslicher Gewalt geht es um systematische, über längere Zeit ausgeübte Unterdrückung, also wenn zu Hause ein Klima der Isolation, der Kontrolle und der Abwertung herrscht. Ein weiteres Vorurteil ist, dass häusliche Gewalt vor allem Migrantinnen betrifft. Allerdings ist häusliche Gewalt keine Frage des Milieus. Es sind Frauen aller sozialen Schichten und Kulturen betroffen. Und auch das Frauenhaus ist mit Vorurteilen konfrontiert: Viele stellen sich das Haus als eine Art Gefängnis vor, das man nicht verlassen dürfe und in dem man mit anderen Frauen ein Zimmer teilen müsse.
Anmerkung der Redaktion: Das Haus ist alles andere als ein gefängnis-ähnlicher Ort. Im Gegenteil: es ist bunt, freundlich und liebevoll eingerichtet. Auch die sieben Zimmer bieten den Frauen und ihren Kindern genug Rückzug, um zur Ruhe zu kommen. Für die Kinder gibt es zudem viel Platz zum Spielen.
Häusliche Gewalt ist keine Frage des Milieus. Sie betrifft Frauen aller sozialen Schichten und Kulturen.
Irene Müller, Co-Geschäftsleiterin Frauenhaus Luzern
Wie können wir uns denn den Alltag im Frauenhaus vorstellen?
Das Haus ist sehr lebendig. Wir haben Platz für sieben Frauen und bis zu zwölf Kinder oder Jugendliche. Morgens richtet jede Frau für sich und ihre Kinder das Frühstück her. Sofern es die Sicherheitslage erlaubt, gehen die schulpflichtigen Kinder zur Schule und einige Frauen zur Arbeit. Für die anderen findet vormittags die Haushaltssitzung statt, wo Aufgaben im gemeinsamen Haushalt organisiert und besprochen werden. Ansonsten sind die Tage sehr individuell. Während eine Frau einen Besuch bei der Psychotherapeutin wahrnimmt, hat eine andere einen Termin bei ihrer Anwältin und wieder eine andere hat ein Gespräch mit ihrer Bezugsperson im Frauenhaus. Die meisten Kinder geniessen es, jederzeit andere Kinder zum Spielen zu haben. Fix sind die gemeinsamen Essenszeiten mittags und abends. Wenn die Kinder abends im Bett sind, treffen sich die Frauen häufig nochmals. Für viele ist es eine wichtige Austauschplattform, um zu merken: Ich bin nicht allein. Ich bin nicht schuldig.
Gibt es Geschichten mit «Happy Ends»?
Die Frage ist: Was ist ein «Happy End»? Das Happy End, das sich die meisten Frauen wünschen, wäre, dass sich ihre Männer verändern und die Gewalt aufhört. Das kommt aber leider selten vor. Die Voraussetzung dafür ist, dass der Partner sein Verhalten reflektiert und Verantwortung übernimmt. Meistens wird aber die Gewalt von den gewalttätigen Männern eher bagatellisiert oder die Schuld den Frauen zugeschoben. Deshalb ist es auch ein Happy End, wenn eine Frau es wagt, sich zu trennen und eine passende Wohnung für sich und ihre Kinder findet – also, wenn ein Neustart glückt.
Was ist aktuell die grösste Herausforderungen für das Frauenhaus Luzern?
Aktuell fordert uns die Wohnungssuche enorm heraus. Es gibt zu wenig bezahlbaren Wohnraum in Luzern und der Zentralschweiz, gerade für Frauen mit Kindern.
Wie gehen Sie persönlich mit den vielen belastenden Geschichten um?
Das Wichtigste ist der Austausch im Team. Wir nutzen dafür Gefässe wie die Teamsitzung oder die Supervision. Auch der Blick auf die positiven Ergebnisse – etwa das Wiedersehen mit ehemaligen Frauen, die es geschafft haben, sich aus der Gewalt zu befreien – gibt uns Kraft. Neben der Arbeit finde ich Ausgleich beim Velofahren oder Singen. Wenn man viel Schweres tragen will, muss man Leichtes als Ausgleich haben.
Ich wünsche mir, dass wir es schaffen, die Dunkelziffer von gewaltbetroffenen Frauen zu senken.
Irene Müller, Co-Geschäftsleiterin Frauenhaus Luzern
Was wünschen Sie sich für die Zukunft – für das Frauenhaus und für die Gesellschaft?
Ich wünsche mir, dass wir weiterhin individuell und bedarfsgerecht arbeiten können. Dafür brauchen wir neben engagierten Mitarbeitenden auch die entsprechenden finanziellen Mittel. Zudem ist es wichtig, dass gewaltbetroffene Frauen und Kinder auf Fachpersonen treffen, die spezifisches Wissen zum Thema häusliche Gewalt haben. Dies können beispielsweise Sozialarbeitende, Lehrpersonen, Richterinnen, Beistände, Ärzte oder die Polizei sein. Für die Gesellschaft wünsche ich mir, dass wir es schaffen, die Dunkelziffer von gewaltbetroffenen Frauen zu senken. Jede Unterstützung, sei es durch Sensibilisierung oder Spenden, trägt dazu bei, dass Frauen sich eher trauen, sich zu melden.
Was kann ich als Privatperson oder Unternehmen konkret tun, um Ihre Arbeit zu unterstützen?
Die Augen und Ohren offenhalten ist das Wichtigste. Wer einen Verdacht hat, sollte es ansprechen – ohne zu drängen, aber mit der klaren Botschaft: «Ich sehe und höre dich, ich bin da für dich.» Auch Unternehmen können sich bei uns melden, um sich beraten zu lassen, wenn zum Beispiel ein Verdacht auf häusliche Gewalt bei einer Mitarbeiterin besteht. Und selbstverständlich sind wir froh um jede Spende, um weiterhin die notwendige Hilfe leisten zu können.
So können Sie das Frauenhaus Luzern unterstützen
Durch den Verkauf von Gritti-Bäumli unterstützen ewl und Migros-Kulturprozent dieses Jahr das Frauenhaus Luzern. Der gesamte Erlös aus den verkauften Teig-Bäumli kommt vollumfänglich den gewaltbetroffenen Frauen zugute. Die Gritti-Bäumli gibt es bis Heiligabend in der Migros Schweizerhof und in den beiden Bahnhoffilialen zu kaufen.
Mehr Infos zur Solidaritätsaktion Link öffnet in neuem Fenster.
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Hilfe vom Frauenhaus
Sind sie von häuslicher Gewalt betroffen oder kennen jemanden, der die Unterstützung oder Beratung des Frauenhauses benötigt? Nehmen Sie Kontakt auf. Ein Anruf unter 041 360 70 00 genügt. Dieser kann auch anonym erfolgen. Auch ohne eigenes Einkommen ist ein Aufenthalt möglich. Die Finanzierung kann über die Opferhilfe oder das Sozialamt erfolgen.

Verwendete Quellen:
- Jahresbericht 2024 des Frauenhauses Luzern Link öffnet in neuem Fenster.
- Instanbul-Konvention 2025 Link öffnet in neuem Fenster. (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt an Frauen und Häuslicher Gewalt)
- Bundesamt für Statistik
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